Buchklassiker: Der Besuch der alten Dame - Friedrich Dürrenmatt

Diogenes Buchcover *
Buchtitel: Der Besuch der alten Dame
Autor: Friedrich Dürrenmatt

Genre: Tragikomödie
Alter: ab 12 Jahren
ISBN: 978-3-257-23045-1
Neufassung erschienen: 1980 (Neuauflage 1998)
Verlag: Diogenes *
Seiten: 160


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Der Besuch der alten Dame wurde bereits kurz nach seiner Uraufführung zum Welterfolg und ist auch heute, 60 Jahre danach, im gesamten deutschen Sprachraum bekannt. Dürrenmatt hat sein Werk später für die Oper adaptiert und seit 2013 gibt es das Stück auch als Musical zu sehen.

Natürlich wurde die Geschichte auch einige Male verfilmt, das erste Mal im Jahr 1959 in Schwarz-Weiß. Dieser erste Film hält sich sehr detailgetreu, auch in den Dialogen, an das Theaterstück. Auch der Film aus dem Jahr 1982 folgt weitgehend der Vorlage seines Stücks. Der österreichische Film aus dem Jahr 2008 weicht in vielen wesentlichen Elementen vom Theaterstück ab. Tiefgründiger ist meines Erachtens das Buch bzw. das Theaterstück.

Mit welchem Geheimrezept hat Dürrenmatt ein derart erfolgreiches Stück geschaffen? Lasst es uns herausfinden!

Zunächst möchte ich euch einen kurzen Überblick über die Geschichte geben.
Mit der kleinen Ortschaft Güllen geht es schon seit geraumer Zeit wirtschaftlich bergab. Die Fabriken sind bankrott und die Leute geld- arbeits- und aussichtslos, also seit längerem mit steigender Armut konfrontiert. Wie ein Licht am Horizont taucht die alte Milliardärin Claire Zachanassian, eine ehemalige Einwohnerin des Dörfchens und bekannte Wohltäterin, in ihrem Heimatort auf. Und tatsächlich ist sie bereit, den Güllenern finanziell mehr als nur ein bisschen unter die Arme zu greifen. Doch sie stellt eine Bedingung, die den Güllenern den Atem stocken lässt: Sie sollen als Gegenleistung den allseits beliebten Ladenbesitzer Alfred Ill ermorden.

Die Zachanassian ist klug genug, die Leute nicht zu einer sofortigen Entscheidung zu drängen. Nein, sie wartet. Sie gibt den Menschen in Güllen Zeit, sich an die Unmenschlichkeit dieses Tauschhandels zu gewöhnen, ihren Schock darüber zu verarbeiten und den Vorschlag schließlich gar nicht mehr so abstoßend zu empfinden.
Hinzu kommt nämlich, dass der alte Ill gar kein Unschuldiger ist. Er hat Claire in seiner Jugend ein schlimmes Unrecht angetan. Nun ist sie gekommen, um Gerechtigkeit einzufordern. Von Gerechtigkeit kann allerdings keine Rede sein, da sie selbst ein Verbrechen begeht, wenn sie einen Mord in Auftrag gibt. Außerdem fehlt ihrem Wunsch nach Rache jegliche Verhältnismäßigkeit zu dem von Ill begangenen Vergehen.

Dürrenmatt benutzt in dem Bühnenstück das Stilmittel der Groteske und verwendet es vor allem im Zusammenhang mit seiner Hauptfigur Claire Zachanassian.
Kurz erklärt: Eine Groteske ist merkwürdig und gruselig, sie stellt die Wirklichkeit verzerrt und widersprüchlich dar. Außerdem charakterisiert sie sich durch Übertreibungen und Anspielungen und verbindet Grauenvolles mit Komischem.
Und so sehen wir schon im Namen Zachanassian, wie auf die steinreichen Herren Zacharoff, Onassis und Gulbenkian angespielt wird, um einen Wiedererkennungseffekt zu erzielen.
Außerdem ist der Rachedurst der Alten absolut unverhältnismäßig, ebenso wie die Geldsumme, die sie für die Ermordung bietet, völlig übertrieben ist.
Des weiteren lässt er die alte Dame wie eine griechische Schicksalsgöttin wirken. Allmächtig, unantastbar, unbeirrbar.
Er erweckt sogar den Eindruck, sie sei unsterblich.
Und sie bekommt immer, was sie will. Das wird auch an ihren Gefolgsleuten verdeutlicht. Sie alle tragen seltsame, abfällig gemeinte Namen, die sie ihnen selbst gegeben hat. Ihr Butler ist ein Akademiker, ihre Sänftenträger hat sie aus der Todeszelle freigekauft. Weitere hat sie auf grausame Weise erniedrigt und führt sie nun mit sich wie süße kleine Schoßhunde. Ihr übertriebener Reichtum und ihr eiserner Wille versorgen sie also mit uneingeschränkter Macht.
Da sie wie eine Göttin über den Menschen steht hat sie aber auch jegliches Veränderungspotential eingebüßt. Sie ist im Laufe der Zeit mehr und mehr erstarrt, genauso wie sich der Gedanke an Rache als einzigen Weg der Genugtuung in ihr festgesetzt hat. Diese starre Unnachgiebigkeit und ihre Unmenschlichkeit wird von ihren zahlreichen, unbeweglichen Prothesen versinnbildlicht. Ihr bleibt nur noch der eine Entwicklungsschritt, der in der letzten Szene gezeigt wird: Sie wird in ihrer Sänfte von der Bühne getragen und ist zur Statue erstarrt.

Der Leser könnte sich nun fragen: Warum ist diese Frau nicht zufrieden mit ihrem Schicksal? Zwar hatte sie eine schwere Zeit, nachdem ihr dieses Unrecht in Güllen widerfahren ist, aber sie ist über dieses Kaff hinausgewachsen und schließlich Milliardärin geworden. Das ist doch auch nicht schlecht! Außerdem sind 45 Jahre eine wirklich lange Zeit, um immerzu an Rache zu denken.
Der Autor serviert uns die Antwort auf diese Frage durch die große Anzahl ihrer Ehemänner, die sie wechselt, wie es ihr gerade Spaß macht. In der eiskalten, alten Frau lebt immer noch das tief verletzte Mädchen von damals, das es nie wieder gewagt hat, zu lieben, sondern all ihre Emotionen in den Vollzug ihrer Rache kanalisiert hat.
Durch ihr maßlos übertriebenes Verhalten drückt Dürrenmatt die Botschaft aus: Geld allein macht den Menschen nicht glücklich.
In diesem Wissen fordert die alte Dame die Güllener auf, für Reichtum all ihre moralischen Grundsätze über Bord zu werfen, denn sie weiß genau, wie verlockend Geld für jemanden ist, der zu wenig davon hat.

Während Claire Zachanassian sich das ganze Stück hindurch starr und unveränderlich verhält, durchläuft Alfred Ill einen intensiven Prozess der Läuterung, bis aus ihm eine Art Held wird.
Nach der Konfrontation mit Claires Angebot findet Ill es zunächst ungerecht, dass er nach so vielen Jahren für dieses Verbrechen belangt werden soll. Er ist der Meinung, das Unrecht sei durch das Leben selbst längst ausgeglichen worden. Damit meint er, dass Claire froh sein kann, dass sie so reich ist, während er in Armut dahinvegetieren muss.
Doch tief im Inneren fühlt er sich auch schuldig ihr gegenüber. Und als die Güllener dann, einer nach dem anderen anfangen, Geld auszugeben, das sie gar nicht haben, wird Ill Angst und Bange. Er gerät regelrecht in Panik. Gleichzeitig wird er von allen, denen er begegnet, für sein Verbrechen klar verurteilt. Der gesellschaftliche Druck steigt massiv an, er spürt, wie die Leute ihm sein Lebendigsein zum Vorwurf machen.
In der Zurückgezogenheit schafft er es schließlich, seine Furcht vor dem Tod ganz allein zu besiegen. Er ist bereit, sich in sein Schicksal fügen, gibt das Recht auf sein Leben auf, weil es ihm auch von seiner Umwelt aberkannt wird. Er sieht auch seine Schuld ein und sein Leben kommt ihm wert- und sinnlos vor. Wie ein Held tritt er dem Urteil der Güllener gegenüber.

Und wie werden sie sich entscheiden? Dürrenmatt stellt sie vor die Frage: Ist eure Moral käuflich? Und wenn ja, wie hoch ist der Preis?
Zunächst reagieren die Güllener Bürger entsetzt und angewidert auf das Angebot der Zachanassian und berufen sich auf ihre abendländischen Prinzipien.
Im Laufe des zweiten Aktes zeigt sich aber schon, dass die Leute wieder Hoffnung haben, aus der Armutsfalle zu entkommen, und in diesem Zuge auch gleich Geld ausgeben, welches sie noch gar nicht besitzen. Dabei denkt noch niemand von ihnen daran, Ill zu töten. Und dennoch hätte jeder gern, dass ein anderer es tut, um davon zu profitieren. Dies wird deutlich in den Gesprächen der Güllener untereinander, in denen sie Ill klar für sein vor langer Zeit begangenes Verbrechen verurteilen, die Zachanassian bemitleiden und sich auf ihre Seite stellen. Ganz bewusst schweigen sie über ihr rachsüchtiges Verhalten und den Mord, den sie fordert, verdrängen es, um sich damit nicht bewusst auseinander setzen zu müssen.
Auch in ihren Zusammentreffen mit Ill verhalten sie sich sonderbar. Wenn er sie mit seiner Angst konfrontiert, reagieren sie entweder mit Desinteresse, oder sie versuchen, seine Bedenken durch Scheinargumente oder Verschiebung der Sachlage zu entkräften. Wenn sie gar nicht weiter wissen, versuchen sie, Ill durch persönliche Angriffe oder Flucht in die Absurdität zu entmutigen und aus der Fassung zu bringen. Unbewusst oder bewusst wollen sie ihn durch ihr absolutes Unverständnis zum Verzweifeln bringen.
Erst die Szene in der Peterschen Scheune zu Beginn des dritten Aktes bringt den entscheidenden Wendepunkt, an dem die Bürger realisieren, dass die Milliardärin von ihrem Plan nicht abzubringen ist.
Sie begreifen den Mord an Alfred Ill als einzigen Weg aus ihrer Misere.
Nur der Lehrer, als Instanz der Moral, der Bildung und der Menschlichkeit, lehnt sich dagegen auf, sich mit dem Gedanken an einen Mord für Geld anzufreunden. Er widersteht der Versuchung am längsten. Doch schließlich zeigt sich in der Geschichte der beängstigende Umstand, dass selbst die Instanzen, auf die man sich als rechtschaffener Bürger gerne verlassen möchte, der Korruption nicht immer widerstehen können und moralisches Verhalten nicht notwendigerweise mit dem Bildungsgrad zusammen hängt.
Außerdem zeigt der Ausgang der Geschichte, dass es im Kollektiv wesentlich einfacher ist, unmoralisches Handeln zu rechtfertigen. Die eigene Verantwortung wird von vielen aufgrund des Verhaltens der anderen, im Vergleich zu sich selbst, relativiert.

Eine interessante Eigenart ist mir in der Bezeichnung der Personen, die in Güllen leben, aufgefallen. Sie werden nicht mit Namen genannt, sondern ausschließlich über ihre Beziehung zu Ill bzw. ihren Beruf definiert. Dadurch erscheinen sie nicht als individuelle Personen, sondern stehen nur symbolisch für ihre Funktion. Es könnte also jeder andere Bürgermeister oder Polizist oder Lehrer in derselben Situation ebenso gehandelt haben.

Der Ausgang der Geschichte in Güllen hängt also nicht von dem besonderen Charakter des Einzelnen ab, sondern rein von den äußeren Faktoren. Damit suggeriert Dürrenmatt, dass, unter denselben Voraussetzungen, sich diese Tragikömodie überall abspielen könnte.
Der Autor zeigt eindrucksvoll, welche Mittel der subtilen Manipulation Menschen in einer Gruppe ausüben können, um ein Ziel zu erreichen, auch wenn die Konsequenzen für andere leidvoll sind.


Zwar ist das Angebot der Zachanassian an die Güllener Anstiftung zum Mord, dennoch präsentiert sie es als Gerechtigkeit und thematisiert auf diese Weise auch die Todesstrafe. Dadurch hat der Autor den Nerv der Zeit getroffen, denn das Bühnenstück entstand in einer Zeit, in der die Todesstrafe im Zivilrecht der Schweiz, dem Heimatland Dürrenmatts, bereits abgeschafft war. In vielen anderen Ländern Europas war sie jedoch noch aufrecht. Die Einstellung dazu war also gerade im Begriff, sich zu wandeln, zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Menschen nach den Gräueltaten des zweiten Weltkrieges von Gewaltanwendung mehr und mehr distanzierten.

Mein Fazit:
Friedrich Dürrenmatt hat sich brisante Themen für dieses Theaterstück ausgesucht und auf eine groteske Art und Weise aufgearbeitet. Spekulation auf die Käuflichkeit der menschlichen Moral, Korruption, Mobbing und die Macht des Geldes. Das sind wahre Dauerbrenner, die auch in Zukunft nicht an Aktualität verlieren werden. Des weiteren ergibt sich aus dem Buch, dass unmoralisches Verhalten in der Gruppe vertretbarer wird und an Schrecken verliert. So oder ähnlich läuft es ab, wenn sich eine Mehrheit gegen eine Minderheit richtet. Es werden nur ein paar schlechte Eigenschaften benötigt, die man der Minderheit vorwerfen kann, um das eigene egoistische Verhalten zu rechtfertigen und der Minderheit gewisse Rechte abzusprechen. Und was vielleicht der wichtigste Punkt ist: Wir Leser werden mit der Frage konfrontiert, ob wir überhaupt anders handeln würden als die Güllener. Trotzdem schafft Dürrenmatt es, uns nicht belehrend den erhobenen Zeigefinger direkt unter die Nase zu halten. Er bringt durch die Konfrontation mit der Thematik den Stein der Überlegungen ins Rollen, überlässt es aber uns selbst, welche Schlüsse wir aus seiner Geschichte ziehen oder auch nicht. Taucht ein in die Themenwelten dieses Buches und lasst euch fesseln, schockieren und berühren von dieser grotesken Tragikomödie!
Viel Spaß beim Selberlesen!

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Leselupe Profil Geschrieben von Susanne!
Ich hoffe, meine Rezension war hilfreich und Euch wird das Buch gefallen.
Die Inhalte sind meine persönliche Meinung zu diesem Buch.
Ich habe keine Gegenleistungen für diesen Text erhalten.

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