Buchklassiker: Arme Leute - Dostojewski

Buchtitel: Arme Leute
Autor: Fjodor Dostojewski


Genre: Klassiker
Alter: ab 15 Jahren
Seiten: 175
ISBN: 978-3458338468
Erstmals erschienen: 1846

Verlag: insel / Suhrkamp *

Diesmal nehme ich den Briefroman "Arme Leute" von Fjodor Dostojewski unter meine Leselupe. Das Buch wurde erstmals 1846 veröffentlicht. Ich habe die deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1997 gelesen, die mit 175 Seiten im  Insel - Verlag erschienen ist.

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Makar Dewuschkin, ein ärmlicher Kanzleibeamte in St. Petersburg, ist verliebt in die um einiges jüngere Warwara Dobrosjolowa. Sie leben in derselben Straße eines Armenviertels der Stadt, eine Beziehung wäre aber für beide undenkbar, weil unehrenhaft. Dennoch stehen sie sich ungewöhnlich nahe. Sie besprechen alles, was sie bewegt, in ihren vielen Briefen. Ihr Alltag und ihre Gedanken werden bestimmt von der Armut, die sie fest in ihrem Griff hält und sie von einer Krise in die nächste schlittern lässt.
“Arme Leute war Dostojewskis erster Roman, der den damals 24-jährigen Autor von heute auf morgen berühmt gemacht hat und auch bei der russischen Intelligentija seiner Zeit mit Begeisterung aufgenommen wurde, weil es das erste Werk in der russischen Literatur war, welches sich so intensiv mit dem Leben, Denken und Fühlen der arme Menschen befasste. Sein Hauptthema ist es, welchen Einfluss die finanzielle Not auf die menschliche Seele ausübt, und genau das schildert uns Dostojewski anhand der beiden Charaktere mit tiefem Einfühlungsvermögen. Zeitkritik wurde, vielleicht absichtlich, fast zur Gänze ausgespart, dieses Buch dreht sich voll und ganz um die beiden Personen Makar und Warwara, und wie sie mit ihrer prekären Situation zurechtkommen. In diesem Buch befinden wir uns im Russland zur Zeit der Zarenherrschaft, als St. Petersburg noch Hauptstadt war und es praktisch unmöglich war, als arm geborener Mensch, aus eigener Kraft sozial aufzusteigen oder sich finanziell besser zu stellen. Der Roman beinhaltet die schriftliche Konversation zwischen Makar und Warwara, die im April beginnt und im September endet, sich also über ein halbes Jahr hin erstreckt und durch Warwaras Tagebuchaufzeichnungen aus einer früheren Zeit, die sie Makar in einem Brief zukommen lässt, ergänzt wird. Makar schreibt ganz eindeutig die längeren Briefe, er nimmt die dominantere Rolle im Roman, und auch in der Beziehung zu Warwara ein. Makar Alexejewitsch Dewuschkin ist um die 45 Jahre alt und in einer Kanzlei als Kopist angestellt, was bedeutet, dass er für das Erstellen von Abschriften verantwortlich ist, sich teilweise sogar Arbeit mit nach Hause nimmt, mit seinem Gehalt aber dennoch mehr schlecht als recht über die Runden. Aus seiner Vergangenheit berichtet er nur spärlich, es wird aber klar, dass er nicht stolz auf das ist, was er im Laufe seines Lebens erreicht hat. Häufig ist seine Gefühlslage dadurch geprägt, dass er sich ungerecht behandelt fühlt, denn obwohl er in seinen Briefen oft abschätzig über sich selbst schreibt, kann er es nicht ertragen, von seinen Kollegen oder seinen Mitbewohnern von oben herab behandelt zu werden. Seiner Selbstachtung, die er darauf begründet, ein zuverlässiger, emsiger und friedfertiger Mensch zu sein, fehlt ein wichtiges Standbein, nämlich seine finanziellen Probleme im Griff zu haben, und so kippt sie gelegentlich in die pure Verachtung seiner selbst.

Ein immer wiederkehrendes Thema in Makars Briefen ist die Scham, die er empfindet, wenn andere Leute bemerken, wie arm er tatsächlich ist. Er schreibt oft über den Zustand seiner zerfallenden Stiefel, die ihm wie ein Sinnbild für sein Elend sind.
Darüber hinaus findet er es anmaßend, dass sich die Leute erlauben, schlecht über ihn zu reden, weil er zum Beispiel an regennassen Tagen nur mit den Zehenspitzen aufsteigt, um seine Stiefel zu schonen. Seine Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, dass es ihm unmöglich ist, seine finanzielle Lage maßgeblich zu verbessern. Und da es nicht seine Schuld ist, wie er leben muss, findet es auch ungerecht, dafür verurteilt zu werden.
Die Bekanntschaft mit Warwara bringt ein wenig Hoffnung und Freude in sein Leben zurück. Er möchte sich um sie kümmern, und ihr sogar den einen oder anderen Luxus bieten, nach all den Schicksalsschlägen, die sie erlitten hat. Dabei lebt er über seine Verhältnisse, was nicht lange ohne Konsequenzen bleiben kann.

Warwara Alexejewna Dobrosjolowa ist zirka 18 Jahre alt und eine sehr kränkliche Person. Oft ist sie mehrere Tage lang ans Bett gefesselt, wo sie dann ans Sterben denkt. Sie hat bereits viele geliebte Menschen beim Sterben begleiten müssen, was sie nachdenklich und trübsinnig hat werden lassen.

Warwara war auch nicht immer so arm und erinnert sich häufig mit sehnsüchtigen Gefühlen an ihre Kindheit auf dem Land. Von den Leuten in ihrem Umkreis wird sie verachtet, weil ihre Ehre beschmutzt wurde.
In diesem Dilemma gefangen, lebt sie von Tag zu Tag und versucht, sofern sie gesund ist, als Näherin etwas Geld zu verdienen und ihre Situation erträglicher zu machen. Einen langfristigen Plan, wie sie ihrem Elend entkommen kann, hat sie nicht. Aber Warwara ist jung, und obwohl sie durch das viele Sterben um sie herum recht melancholisch geworden ist, ist in ihren Briefen doch eine gewisse Zuversicht zu spüren, die Zukunft könnte noch eine glückliche Wendung für sie mit sich bringen. Sie wünscht sich ein Leben, in dem sie keine Not mehr leiden muss, und dennoch sich selbst treu bleiben kann. Die Hoffnung darauf schwindet jedoch bis zum Ende hin mehr und mehr, und Warwaras Briefen werden immer düsterer.

"Arme Leute" ist das erste Werk, das ich von Dostojewski gelesen habe, und ich bin sehr beeindruckt davon, wie er für jeden Charakter einen ganz eigenen Schreibstil wählt und besonders dadurch, nicht nur durch die konkreten Aussagen, ihre Eigenart herausarbeitet. Die Briefe wirken sehr lebendig, fast als säßen Warwara und Makar tatsächlich irgendwo an ihren kleinen Tischchen und schrieben sich ihre heimlichsten Gedanken. Besonders überrascht war ich, dass ich dieses über 170 Jahre alte Buch flüssig und schnell lesen konnte. Die Sprache hat natürlich eine ganz andere Klangfarbe als in neueren Werken, aber schon nach der ersten Seite habe ich mich darin zuhause gefühlt und hatte keinerlei Verständnisprobleme. Nur mit den langen russischen Namen, die für mich oft recht ähnlich geklungen haben, hatte ich etwas zu kämpfen.


In den ersten Briefwechseln ist mir aufgefallen, wie übertrieben sich Makar und Warwara über die kleinen Dinge freuen können, wie zum Beispiel nicht krank zu sein oder gute Stimmung zu haben, oder sogar einmal einen Spaziergang bei Schönwetter zu erleben. Sie nutzen jede noch so geringe Möglichkeit, ihre Not für kurze Zeit zu vergessen.


Makar und Warwara tauschen gerne Bücher aus. Warwara kannte in ihrer Jugend einen Studenten, der ihr wertvolle Bücher zu lesen gegeben hat. Sie ist eine wählerische Leserin und verlangt nach anspruchsvoller, tiefgründiger Literatur.
Makar seinerseits lernt im Laufe der Geschichte einen Romanautor persönlich kennen und liebt dessen poesiereiche, rosig geschriebene Schriften, die ihn in eine Welt entführen, wo das Leben aufregend und schön sein kann.
Damit kann Warwara aber gar nichts anfangen, sie schickt Makar im Gegenzug Gogols Werk “Der Mantel”. Makar erkennt sich selbst, ja sein ganzes Leben in diesem Buch niedergeschrieben und regt sich furchtbar darüber auf, wie sein Elend in diesem Buch zur Unterhaltung anderer Menschen beiträgt. Er fühlt sich wie nackt ausgezogen und zum Begaffen vorgeführt.
Das war für mich der Punkt, an dem ich gemerkt habe, dass Dostojewski versucht, den Leser nicht lediglich außenstehend die armen Menschen in der russischen Hauptstadt beobachten zu lassen, sondern ihm die Gelegenheit zu geben, für kurze Zeit mitzufühlen, ja sich genauso zu fühlen wie ebendiese beschriebenen Leute.
Das erreicht er durch die Intimität, eine briefliche Konversation mitzulesen einerseits, andererseits durch die Schaffung des Bewusstseins, dass auch ein armer Mensch, der viele Abstriche in seinem Leben machen muss, immer noch seine Würde bewahren möchte und von anderen als vollwertig angesehen werden will, so wie jeder andere auch.

Mein Fazit:
Ich habe das Buch mit bangen und hoffenden Gefühlen gelesen, weil fast bis zum Ende ungewiss bleibt, was aus Makar und Warwara wird und wohin ihre Wege sie führen werden.
Ihre Geschichte hat mich tief berührt. Besonders ergreifend fand ich die Art und Weise, wie Makar und Warwara sich gegenseitig unterstützen, sich Mut machen oder sich beim anderen ausheulen, wenn mal alles schief läuft. Wir erleben eine Liebe aus der Ferne, die ihresgleichen sucht.
Viele der Themen, die der Roman aufwirft, sind für mich als Leser von heute, immer noch greifbar und realistisch, wie zum Beispiel herablassende Blicke auf jene, die arm sind, oder deren Scham, wenn sie ihre Armut nicht verbergen können, ebenso wie die Wut der Armen auf die Reichen, die im Luxus schwelgen, während ihnen selbst das Nötigste fehlt.

In Warwaras Situation konnte ich mich nicht besonders gut hineinversetzen, da ihr Dilemma mit der verlorenen Ehre für mich heutzutage nicht mehr wirklich nachvollziebar ist. In Sachen Beziehungen, und was wir Menschen sonst noch mit unseren Liebesgefühlen anfangen, ist unsere Gesellschaft schon so aufgeschlossen, dass mich auch die Unehrenhaftigkeit einer Beziehung zwischen den beiden Charakteren nicht mehr so recht ergreifen konnte.

Dieser Briefroman beschäftigt sich nicht so sehr mit geschichtlichen oder politischen Hintergründen der Zarenherrschaft in Russland, sondern er bringt uns die innersten Gefühle, Hoffnungen und Selbstzweifel von Menschen, die im ständigen Mangel leben, näher. Er lässt uns nicht vergessen, dass jeder Mensch, ob reich oder arm, eine Seele hat, die danach strebt, an den Erfahrungen des Lebens zu lernen und zu reifen und von anderen würdevoll behandelt zu werden.

Hinterlasst gerne einen Kommentar, falls ihr das Buch schon kennt oder eine Meinung dazu habt!

Viel Spaß beim Selberlesen!

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Leselupe Profil Geschrieben von Susanne!
Ich hoffe, meine Rezension war hilfreich und Euch wird das Buch gefallen.
Die Inhalte sind meine persönliche Meinung zu diesem Buch.
Ich habe keine Gegenleistungen für diesen Text erhalten.

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